Mechanische Ähnlichkeitsgesetze
Von Moritz Gretzschel
In der letzten Zeit gab es sowohl in de.etc.bahn.eisenbahn als auch in de.rec.modelle.bahn wiederholt Anfragen, die sich z.B. damit befaßten, wie etwa der Massenausgleich von Modellokomotiven gestaltet werden müsse, ob Entgleisungen oder Unfallszenarien von Eisenbahn und Modellbahn sich vergleichen ließen, oder ob die Verhältnisse an Live-Steam Modellokomotiven und Vorbildloks gleich seien.
Als Fahrzeug-Systemdynamiker, der sich schon oft mit mechanischen Ähnlichkeitsgesetzen herumschlagen mußte, habe ich nun den Versuch gewagt, ein paar Überlegungen dazu aufzuschreiben, um möglichst etwas Licht in dieses verworrene Thema mechanischer Ähnlichkeit zu bringen, die ich hiermit zur Diskussion stelle. Ich hoffe, es ist noch mehr oder weniger allgemeinverstädlich geblieben.
Inhaltsverzeichnis
Theorie: Einleitung Ähnlichkeitsgesetze
Bei Modellen, verkleinerten Ausführungen von technischen Systemen muß man Modell- oder Ähnlichkeitsgesetze beachten, wenn sich das Modell "ähnlich" zum Vorbild verhalten soll. Am ehesten sind solche Ähnlichkeitsgesetze noch aus der Aerodynamik bekannt, wo z.B. niemand es sich leisten könnte, einen Jumbo Jet im Maßstab 1:1 in den Windkanal zu hängen. Daher müssen bestimmte Versuchsparameter so gewählt werden, daß die Strömungsverhältnisse (z.B. gekennzeichnet durch die Reynoldszahl) mit denen des Vorbilds vergleichbar werden. Solche Bedingungen gelten auch für die Fahrdynamik von Schienenfahrzeugen, die z.B. auch auf skalierten Modell-Rollprüfständen untersucht werden kann. Dabei muß man sich zunächst klarmachen. _was_ sich denn ähnlich verhalten soll: Z.B. die Schwingungsamplituden (dynamische Ähnlichkeit), das Zeitverhalten, die Spannungen in den Werkstoffen oder Form und Größe der Kontaktellipse (elastische Ähnlichkeit). Aber Ähnlichkeit in all diesen Belangen läßt sich nicht gleichzeitig erzielen, so daß, je nach Zweck des Versuchs, unterschiedliche Skalierungen gewählt werden müssen. Dabei sind innerhalb eines Modells teilweise völlig unterschiedliche Skalierungsmaßstäbe jeweils für Geometrie, Masse, Geschwindigkeit, Zeit, Dichte, Beschleunigungen, Elastizitäten, Kräfte, Leistung usw. zu wählen.
Auswirkungen auf die Modellbahn
Dies alles interessiert den Modellbahner nur wenig. Beurteilungskriterien für Modellbahnfahrzeuge sind fast ausschließlich die korrekte Einhaltung des Längenmaßstabs und allenfalls noch des Geschwindigkeitsmaßstabs, der gleich dem Längenmaßstab sein soll. Das heißt: Auf die von Vorbild und Modell innerhalb einer bestimmten Zeitspanne durchfahrene Strecke ist ebenfalls der Längenmaßstab anwendbar, denn Drehzahl z.B. der Treibräder von Vorbild und Modell soll der Optik halber gleich sein. Daß auf manchen Modellbahnanlagen nach einer beschleunigten Modellzeit gefahren wird, um die im Vergleich zum Vorbild zu kurzen Streckenlängen auszugleichen, hat damit aber nichts zu tun, denn dennoch wird von den Fahrzeugen eine maßstäbliche Höchstgeschwindigkeit gefordert. Fast ohne Beachtung ist der Massemaßstab (Gewicht), der hauptsächlich durch die spezielle Bauweise de Modells festgelegt wird, wobei bei Triebfahrzeugen meist eine hohe Masse zur Erzielung hoher Zugkräfte erwünscht ist. Von der Fahrzeugdynamik indes ist allenfalls noch die reine Längsdynamik, also die eindimensionale Bewegung des Zuges entlang der Gleisachse, für den Modellbahner von gewissem Interesse, dazu aber unten mehr.
Auch wenn dies nicht weiter bewußt ist, so hat doch die Festlegung dieser Maßstäbe Auswirkungen auf das dynamische Verhalten der Fahrzeuge, denn zwangsläufig wird dadurch die Ähnlichkeit in manch anderer Hinsicht verletzt.
Dies möchte ich im Folgenden in den Punkten, die ich für den Modellbahner von Interesse halte, zu diskutieren versuchen. Dabei werde ich mehrmal auf die Verhältnisse an einem fiktive Live-Steam Gartenbahnmodell im Maßstab 1:10 (Stellvertretend für die "großen" Spurweiten von 127, 144 oder 184 mm) eingehen. Dies deswegen, weil im Gegensatz zu kleineren Modellbahnfahrzeugen hier die _Bauweise_ und technische Funktionsweise mit der des Vorbild noch (fast) identisch ist, so daß man mehr direkte Vergleichsmöglichkeiten hat. Prinzipiell gelten diese Überlegungen aber genauso für kleinere (z.B. H0) Fahrzeuge, wobei bei diesen die Abweichungen noch viel drastischer ausfallen! Denn vielfach geht der Längenmaßstab in seiner zweiten, dritten oder gar vierten Potenz ein. Wo es praktische Auswirkungen hat, habe ich auch Zahlenwerte für H0 aufgeführt.
Gewichtskräfte und statische Lasten
Bei einem geometrisch ähnlichen Modell skaliert sich das Volumen mit der dritten Potenz des Längenmaßstabs. Bei gleicher Dichte, also z.B. bei einem völlig maßstäblichen Metallmodell, wiegt unser 1:10-Modell ein Tausendstel des Vorbilds. Die statischen Lasten bewirken Spannungen im Material, wie z.B. Spannungen in tragenden Bauteilen und Pressungen in Lagern. Nun gehen aber die Bauteil- und Lagerquerschnitte nur mit dem Quadrat des Maßstabs nach unten, so daß die Spannungen aus statischen Lasten linear mit dem Längenmaßstab abnehmen und bei unseren Beispielmodell nur ein Zehntel von denen des Vorbild betragen! Daher ist selbst ein absolut maßstäbliches Modell vergleichsweise robust, und kann z.B. an den Puffern oder am Führerhaus gefahrlos angehoben werden, was beim Vorbild vielleicht sogar zu einem Totalschaden führen würde. So gesehen ist man auf der sicheren Seite. Dennoch werden z.B. manche Wandstärken des Modells meist übermaßstäblich stark ausgeführt, sei es aufgrund der Verarbeitbarkeit, oder vor allem deswegen, weil beim Vorbild nicht einkalkuliert war, daß "King Kong" am Fahrzeug herumzerrt oder sich gar daraufsetzt. Daher ist ein Modell meist massiver und kompakter gebaut, also schwerer als sich rechnerisch aus dem Längenmaßstab ergeben würde. Ein 1:10-Gartenbahnmodell einer beispielsweise 60 Tonnen schweren Tenderlokomotive kann durchaus doppelt so kompakt wie das Vorbild sein, also z.B. 120 kg wiegen. Bei Modellen in noch kleinerem Maßstab (z.B. H0) verschwinden die Beanspruchungen aus statischen Lasten noch deutlicher, was mit der Grund ist, daß man z.B. auch Architekturmodelle in dieser Baugröße aus Papier bauen kann, ohne daß sie durch ihr Eigengewicht einsinken. Stattdessen gewinnen die Beanspruchungen durch von außen eingeprägte Kräfte (Finger) an Bedeutung, aus King Kong wird Godzilla. Aber Lokomotivmodelle diese Größe sind eh unter der Schale völlig anders aufgebaut als das Vorbild.
Sonderfall Dampfkessel
Prinzipiell könnte ein exakt maßstäblicher Dampfkessel, aus dem selben Material wie das Vorbild gefertigt, auch den selben Innendruck ertragen: Sowohl Angriffsflächen des Dampfs wie auch wirksame Materialquerschnitte skalieren sich gleichermaßen mit dem Quadrat des Längenmaßstabs. Dennoch ist man auch hier auf der sicheren Seite: Ein Modellkessel wird wohl weniger filigran und zerklüftet sein als ein Vorbildkessel, die Wandstärken sind oft dicker als maßstäblich, und schließlich gibt man sich im Modell meist mit einem geringeren Kesseldruck zufrieden: Im Vorbild sind bis etwa 16 bar, bei Gartenbahnen bis 8 bar meist üblich. Keinesfalls läßt sich aber die Anzahl und Anordnung der Heiz- und Rauchrohre maßstäblich übernehmen, da die Strömungsverhältnisse im Modellkessel völlig andere sind. Maßstäbliche Rohre von wenigen Millimetern lichter Weite würden auf das Feuer wie das Netz einer Grubenlampe wirken und es ersticken. Weil also die Rohre weniger und größer sein müssen fällt die Heizfläche erheblich kleiner aus, als sie maßstäblich wäre. Da aber nun die Flächen im Quadrat, der Kesselinhalt im Kubik mit dem Längenmaßstab sinkt paßt es schon wieder eher zusammen.
Kraftschlußausnutzung von Dampfloks
Schauen wir uns ein 1:10-Dampflokmodell an, und setzen den gleichen Reibwert zwischen Rad und Schiene wie beim Vorbild voraus. Dann würde der Kolben, den gleichen Dampfdruck angenommen, ein Hundertstel der Kolbenkraft des Vorbilds aufbringen, die Lokomotive könnte aber gemäß ihres Gewichts nur ein Tausendstel der Zugkraft des Vorbilds überhaupt auf die Schiene bringen! So gesehen scheint das Modell um den Faktor 10 (den Längenmaßstab) "übermotorisisert", so daß ein sofortiges Schleudern der Treibräder zu erwarten wäre. Doch aufgrund der bereits oben genannten Gründe relativiert sich dieses Mißverhältnis wieder:
- Der Kesseldruck des Modells dürfte niedriger als der des Vorbilds sein, z.B. die Hälfte
- Das Modell dürfte massiver gebaut sein, und etwa doppelt so viel Reibkraft wie maßstäblich auf die Schiene bringen
- Meist wird der Kolbendurchmesser etwas kleiner als maßstäblich sein: Die Zylinderwandungen mit den Dampfkanälen werden meist aus Fertigungsgründen dicker sein müssen. So hat zum Beispiel ein Modellkolben mit 40 mm Durchmesser nur knapp die Hälfte der Fläche eines eigentlich maßstäblichen Kolbens mit 60 mm Durchmesser.
Rechnet man all dies zusammen und zieht eine noch unter Umständen höhere Lagerreibung des Modells in Betracht, so hat das Modell bei vollem Schieberkastendruck nun doch die ungefähr gleiche Schleuderneigung wie das Vorbild.
Antriebsleistung
Selbst solch ein doppelt zu kompaktes 1:10-Modell muß, wenn es bei maßstäblicher Geschwindigkeit an der Reibschlußgrenze fährt, nur ein Fünftausendstel (Massemaßstab mal Geschwindigkeitsmaßstab) der Antriebsleistung des Vorbilds abgeben. Mit einer Rostfläche von einem Hundertstel des Vorbilds, einem Feuervolumen von ca. einem Tausendstel und einem Kessel von vergleichsweise bescheidenem Wirkungsgrad sollte dies meist möglich sein, so daß man ev. sogar noch mit dem Regler wird drosseln müssen, und auch der wirtschaftlichen Kesselnutzung kein allzu hohe Beachtung schenken muß.
Dynamische Kräfte
Die dynamischen Kräfte, also diejenigen, die aus translatorischen oder rotatorischen Beschleunigungen resultieren, skalieren sich bei maßstäblicher Modellgeschwindigkeit (also gleicher Raddrehzahl) mit dem Massemaßstab mal dem Längen- bzw. Geschwindigkeitsmaßstab. Sie verschwinden also sehr, sehr deutlich.
Fliehkräfte treten direkt am Fahrzeug hauptsächlich in Form von dynamischen Radlastschwankungen infolge von Unwuchten (z.B. Treib- und Kuppelstangen, unvollkommener Massenausgleich) auf. Bei gleicher Kompaktheit (zumindest der Räder) gehen sie also mit dem Längenmaßstab hoch vier nach unten. Das heißt beispielsweise, daß der Anteil der dynamischen Radlasten an den gesamten Radlasten mit dem Längenmaßstab sinkt. Demnach ist schon bei 1:10-Modellen ein Massenausgleich im Triebwerk deutlich weniger wichtig als beim Vorbild. Daher reicht es meist schon, wenn er nur näherungsweise vorgenommen wird. Und erst recht beim H0-Modell wäre ein Massenausgleich technisch nicht mehr erforderlich, so daß die Gegengewichte hier nur optische Begründung haben. Fliehkräfte treten auch bei Kurvenfahrt auf. Beim Vorbild beschränkt die Querbeschleunigung die zulässige Fahrgeschwindigkeit im Bogen und ist Grund für die Gleisüberhöhung. Da auch ihr Verhältnis zur Erdbeschleunigung bei maßstäblich großem Gleisbogen mit dem Längenmaßstab abnimmt sind Gleisüberhöhungen beim Modell technisch eigentlich nicht notwendig. Selbst bei einem aus Platzgründen zehnfach(!) zu engen Gleisbogen in H0 sinkt sie auf rund ein Zehntel der Querbeschleunigung beim Vorbild. Vielmehr muß bei einer dennoch aus optischen Gründen eingebauten Gleisüberhöhung darauf geachtet werden, daß der Zug durch die in der Kurve schräg nach innen wirkenden Zugkräfte in den Kupplungen nicht nach innen kippt!
Auch die translatorischen Beschleunigungskräfte sinken mit dem Massemaßstab mal Längen- bzw. Geschwindigkeitsmaßstab. Die durch sie hervorgerufenen Materialbeanspruchungen sinken also beim 1:10-Modell um den Faktor 100, beim H0-Modell gar um den Faktor 7570! Daher sind sie erfreulicherweise völlig zu vernachlässigen, und dies erklärt auch, daß im Modell z.B. selbst schwerste Kollisionen ohne bleibende Verformungen der Fahrzeuge ausgehen.
Ohne im Detail darauf eingehen zu wollen, so sind doch die nahezu verschwindenden dynamischen Kräfte der Grund dafür, daß Modellbahnfahrzeuge mit ihrem zum Teil extrem primitiven Fahrwerk einigermaßen sicher im Gleis laufen: Ohne vernünftige Zentrierung und Dämpfung, ohne vertikalen Lastausgleich, mit riesigen Spielen an Achs- und Drehgestellagerungen, und das Ganze durch viel zu enge Gleisbögen unter haarsträubenden Anlaufwinkeln. So etwas würde, auf Originalgröße hochskaliert, nicht einmal wenige Meter weit im Gleis bleiben! Angenehmerweise funktioniert es aber bei der Modellbahn, unter Vernachlässigung der Laufdynamik in Querrichtung bleibt sie meist schon irgendwie mir ihren Spurkränzen im Gleis, sogar wenn, wie von einigen Puristen bevorzugt, die Radprofile maßstäblich und nicht mit übergroßen Spurkränzen ausgeführt werden.
Längsdynamik: Beschleunigen, Bremsen und Steigungen
Ein nur sehr schwer zu lösender Widerspruch steckt in der Längsdynamik, und wenn man in Modelltestberichten sieht, welche Aufmerksamkeit der Auslaufstrecke des Fahrzeugs gewidmet wird, so ist dies Ausdruck dieses Widerspruchs. Betrachten wir zunächst eine allein fahrende Lokomotive, so ist die maximale Beschleunigung (also wenn die Räder immer knapp vor dem Schleudern sind) ausschließlich vom Reibwert zwischen Rad und Schiene abhängig. Bei einem Reibwert von beispielsweise 0,2 entspräche dies einer Beschleunigung von 0,2 G. Dies gilt solange, bis bei steigender Geschwindigkeit irgendwann die Leistungsgrenze von Motor oder Kessel erreicht ist, was aber bei Modellokomotiven nicht eintritt. Nun beschleunigt aber auch eine H0-Lokomotive, wenn wir auch hier einen Reibwert von 0,2 annehmen, mit diesen (echten!) 0,2 G. Damit zischt sie aber mit dem 87-fachen der Beschleunigung davon, die bei Einhaltung von Längen- und Geschwindigkeitsmaßstab 1:87 und Zeitmaßstab 1:1 korrekt wäre!
Will man aber Züge eine Steigung hinaufziehen, so brauchen wir eine Zugkraft, die dem Gewicht des Zuges mal die Steigung (in Prozent) entspricht. Bei voller Reibwertausnutzung kann man allerhöchstens einen Zug befördern, dessen Gesamtgewicht das Reibgewicht der Lok mal den Reibkoeffizienten geteilt durch die Steigung in Prozent beträgt. Im Klartext: Wenn wir annehmen, daß Reibwert und Steigung bei Vorbild und Modell gleich seien, so muß auch das Modell volle Zugkraft an der Kraftschlußgrenze fahren, wenn wir mal ein gleiches Verhältnis der Massen von Lok und Wagenzug unterstellen. Dafür wäre also die maximale Zugkraft in Ordnung, fürs Beschleunigen aber weit überhöht.
Genauso sieht es auch beim Bremsen aus, das ja nichts weiter als ein negatives Beschleunigen ist. Auch wenn ein maßstäblicher Bremsweg rein platzmäßig auf den wenigsten Modellbahnanlagen unterzubringen wäre, so läßt sich doch selbst ein verringerter, aber halbwegs plausibel aussehender Bremsweg im Modell nur durch langsames, gezieltes Wegnehmen der Zugkraft erreichen. Fahrpulte mit einstellbarer Verzögerung, oder neuerdings die Digitaltechnik versuchen diesen Widerspruch etwas zu mildern, man sollte sich aber dennoch über die Ursachen klar sein.
Originalartikel von Moritz Gretzschel